MIKROBIOLOGIE
Schnüffelstoff aus
der Flasche
Wenn sich Schimmelpilze über alkoholfreie
Getränke „hermachen“
Marktverschiebungen führen u. a. auch zu Änderungen im mikrobiologischen Risikopotenzial von Getränken.
Near-Water-Getränke zählen wegen des Gesundheits- und Wellnesstrends seit Jahren zu einem
der dynamischsten Marktsegmente (FEIL 2020). Gleichzeitig steigt die Konsumenten-Sensibilität
gerade dieser Zielgruppe. Wer nun ein Getränk öffnet und es strömt ihr/ihm ein „klebstoff- oder lösemittelartiger“
Geruch entgegen, der erspürt sinnlich eine harte Differenz zur etiketten- und werbegesteuerten
Verbrauchererwartung. Der natürliche Ekelreiz wird im Regelfall verhindern, dass es zu
einer oralen Zufuhr des Getränkes kommt: Der sprichwörtliche „Schluck aus der Pulle“ unterbleibt.
Andererseits steigt die Wahrscheinlichkeit einer Reklamationsaktivität.
Verbraucherbeschwerden werden dabei
nicht nur an die zuständigen Stellen
des Lebensmittelunternehmers
oder des LEH, sondern gerne auch als
echte sog. Beschwerdeproben zur zuständigen
amtlichen Lebensmittelaufsicht
getragen. Daraus können (öffentliche)
Rückrufe resultieren. Wohl
dem Verantwortlichen, der auf eine
verständige und dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit auch im praktischen
Verwaltungshandeln verpflichtete
Behörde trifft!
Betriebsintern gibt es keine andere
Wahl, als derartige Funde in besonderer
Weise ernst zu nehmen. HACCP-Teams
werden hierbei – ähnlich wie bei Algenfunden
(s. LANGE u. BECKMANN
2021) das Kriterium „Entdeckungswahrscheinlichkeit“
hoch bewerten:
Alles, was ein Getränk stark sinnfällig
verändert, besitzt jenseits aller potenziellen
Gesundheitsgefährdung eine
überproportional hohe „Chance“, reklamiert
und zurückgerufen zu werden
sowie gegebenenfalls behördliche
Reaktionen hervorzurufen.
Exkurs: Die zunehmende Produktvielfalt
im Getränkesektor – betrachtet
man die letzten 20 Jahre (Stichworte:
Energy Drinks, zunehmende Affinität
zu exotischen und eher unkonventionellen
Kombinationen und sinkende
Scheu von Geschmäckern und Düften
aus der Retorte) – führt voraussehbar
dazu, dass gelegentlich reklamationswürdige
Malsensationen gar nicht erkannt
werden. Den Grund liefert die
Rezeptionsforschung: Die sinnliche
Wahrnehmungsbreite hängt nicht
nur von den tatsächlich gemachten
Erfahrungen ab (Stichwort: sensorisches
Gedächtnis), sondern auch von
der sprachlichen Benennung derselben
(= verbale Encodierung, s. BENSAFI
et al. 2007). Wenn also die kollektive
Sprachfähigkeit – auch schon vor Corona
Zeiten – durch Slang-, Jugend-
und Mode-„Sprech“ abnimmt, kann
tatsächlich extrapoliert werden, dass
die eine oder andere mikrobiologische
Havarie – insoweit es sich um Einzelgebinde
handelt – unentdeckt bleibt!
Kommt es neben dem sichtbaren
Schimmelpilzwachstum zu starken
geruchlichen Abweichungen, so werden
diese Kasuistiken tatsächlich gerne
anekdotisch in den Jahresberichten der
Landesuntersuchungsämter besprochen.
Hier rangiert augenscheinlich
der Infotainment-Wert hoch.
Ein weiteres Erfrischungsgetränk
wies einen ekelerregenden
Lösemittelgeruch auf,
der möglicherweise durch Missbrauch
der Leerflasche verursacht
wurde. Ein Erfrischungsgetränk
wurde als Beschwerdeprobe wegen
ekelhaften Geruchs eingereicht. Die
Beschwerde konnte bestätigt werden,
die Probe war zusätzlich durch
Schimmelpilze und aerobe Keime
stark belastet. Nachproben des
gleichen Mindesthaltbarkeits
datums waren unbelastet.“
(Auszug Jahresbericht 2009 LMÜ
des Landes Bremen)
Auffallend ist dabei der spekulative
Anteil des Textes. Im geschilderten Fall
hatte das kleine Bundesland insgesamt
ganze 18 Proben an alkoholfreien Getränken
(!) unter Warencode 32 untersucht
und 3 Proben moniert (entspre-
28 GETRÄNKEINDUSTRIE · 8/2021